Mit offenem Mund – Zwischen Trotz, Lebenslust und Selbstausdruck (vor 2000-2023)

7. August 2025

Liebe*r Couchgalerie-Besucher*in!

Nach dem ersten Beitrag über das Schreien in der Kunst: „Kunst als Ventil für starke Gefühle 2002–2021 – Wenn Bilder schreien!“ und dem zweiten Teil, einem kleinen Ausflug in die Skulptur, geht es in diesem dritten Beitrag zurück zur Fläche: gezeichnet, gemalt, collagiert – mit unterschiedlichsten Techniken und Stimmungen.

Doch diesmal bleibt der Mund zwar offen, aber es wird nicht geschrien. Stattdessen begegnen wir Figuren, die rufen, jauchzen, staunen, flüstern oder einfach ganz still den Mund geöffnet halten – vielleicht aus Freude, vielleicht aus innerer Bewegung.

Was geschieht, wenn der Mund offen bleibt, ohne zu schreien? Was zeigt sich in diesem Moment zwischen Einatmen und Aussprechen, zwischen Lauschen und Loslassen?
Diesen Fragen spürt dieser Beitrag nach – mit einer vielstimmigen Bildersammlung aus mehreren Jahrzehnten.

Mit offenem Mund – zehn künstlerische Positionen zwischen Trotz, Lebenslust und Selbstausdruck

🌀 Das Scheitern der Heiterkeit – kunsttherapeutisches Bild (vor 2000)

Dieses Bild trägt den Titel „Das Scheitern der Heiterkeit“ – entstanden vor dem Jahr 2000 in einem kunsttherapeutischen Prozess. Die blaue Figur sitzt mit aufgerissenen Augen und weit geöffnetem Mund inmitten kreisender Spiralen. Die Hände halten das Gesicht, als müsste etwas festgehalten oder gebannt werden. Der Schrei wirkt nicht laut – sondern innerlich. Eine Art von stummer Explosion, bei der das Außen die Wucht des Innen kaum fassen kann.

Der Titel gibt dem Bild seine doppelte Bedeutung: Etwas, das leicht, hell oder hoffnungsvoll sein sollte, ist gekippt. Statt Heiterkeit: Kontrollverlust. Statt Leichtigkeit: Strudel, Druck, Auflösung. Und mittendrin eine Figur, die nicht mehr spielt, nicht mehr lacht – sondern ernsthaft um Ausdruck ringt.

Ein Bild, das das Lächeln verweigert – und damit ehrlich wird.

🖼️ Mit offenem Mund zurück ins Malen – Schaukelbild (2018) 

Nach einer langen Pause begann ich 2018 wieder zu malen. Dieses Bild war eines der ersten – leicht, fröhlich, fast kindlich. Der Stil erinnert an Grundschulzeichnungen: große Flächen, klare Farben, naive Proportionen. Und doch steckt viel darin.

Das Mädchen mit dem offenen Mund ist in Bewegung – sie schaukelt, hebt ab, fliegt. Der geöffnete Mund ist kein Schrei, sondern Ausdruck von Lebenslust, von Begeisterung. Vielleicht ruft sie, vielleicht singt sie. Vielleicht lässt sie einfach nur den Wind hindurch. Für mich war es der Einstieg zurück in die eigene Kreativität: schaukelnd, fliegend, mit offenem Mund.

🖼️Staunen im Schneefall – Winterbild mit offenem Mund (ca. 2018)  

Dieses Ölkreidebild auf farbigem Tonpapier entstand ungefähr zur selben Zeit – vermutlich sogar etwas früher als das Schaukelbild. Die Idee stammt von Pinterest, aber die Umsetzung ist ganz meine: expressiv, einfach, farbenfroh.

Das Kind steht da mit offenem Mund, nach oben gerichtet, als wollte es Schneeflocken fangen. Der Moment ist spielerisch, aber auch still. Der Mund ist weit geöffnet, die Zunge bereit, der Blick geht ins Unendliche. Es geht nicht um Schreien, sondern um Staunen – das Staunen über die Welt, das Aufnehmen mit allen Sinnen. Ein Bild für den Anfang von etwas: still, offen, neugierig.

🖼 Yippie! – Affirmationskärtchen (2020)

Dieses Bild stammt aus einer Serie von Affirmationskärtchen aus dem Jahr 2020. Eine Frau auf einem Pferd, mitten im Galopp, der Mund weit geöffnet – sie könnte lachen, jauchzen oder rufen. Vielleicht ruft sie einfach nur: „Yippie!“

Inmitten der offenen Münder dieses Beitrags ist dieser hier besonders ungebändigt: keine Angst, kein Staunen, kein Innehalten – sondern ein Ausruf der Lebensfreude. Fast grell, überdreht, wild – aber voller Kraft. Der geöffnete Mund wird hier zum Symbol für ein Aufbrechen, ein Losreiten, ein Sich-Zeigen. Ein trotziges, lustvolles „Ich bin hier!“ – mit flatterndem Haar und glitzernden Augen.

🖼 Ich schrei dich an (2021)

Skizzenbuch, Doppelseite, DIN A5. Katalog-Kleider auf Aquarellgrund, bemalt mit Aquarellbuntstiften und Fineliner.
Vorlage: Jetzt hol ich mir eine neue Mama von Manuela Olten.

Eine Szene voller Spannung: Das Kind brüllt, die Faust geballt, der Zeigefinger wie ein Blitz – und der Mund weit aufgerissen. Die Frau daneben bleibt stumm, unbewegt, mit starrem Blick. Der Kontrast zwischen beiden Figuren ist maximal: Laut gegen leise, Aktion gegen Reaktion.

Hier ist der geöffnete Mund ein Ventil: für Wut, für ein „Ich hab genug!“, für eine kindliche Radikalität, die keine Rücksicht kennt. Es geht nicht um Kommunikation, sondern um Abgrenzung, Behauptung, Macht. Und doch liegt darin auch ein verletzliches „Sieh mich!“.
Ein aufgeladenes Stillleben zwischen zwei Figuren – und eine überraschend zeitlose Szene.

🖼 Lustschreie (2021)


Digital übermaltes Foto aus der Reihe #malenimwald

Zwei Steine – zwei Gesichter, eng aneinandergeschmiegt. Ihre Züge sind überzeichnet, die Mimik ekstatisch: Die vordere Figur mit blonden Haaren zeigt einen weit geöffneten rosa Mund, dahinter ein weiteres Gesicht mit grün umrandeten Augen – und einem dunkelroten, blütenartig überhöhten Mund.

Der Titel „Lustschreie“ legt eine bestimmte Lesart nahe – doch was hier wirklich geschieht, bleibt vieldeutig. Ist es Ekstase? Überraschung? Theater? Der Ausdruck schwankt zwischen Komik und Übertreibung, zwischen Natur und und digitalem Rollenspiel.

Der Mund ist auf – ganz weit. Und bleibt dabei seltsam stumm. Ein weiteres Bild, das die Vielfalt des offenen Mundes spielerisch auslotet – und in ganz andere Gefilde führt als der Schrei.

📣 Der Rufer – digitale Zeichnung über Baumrinde (2022)

Dieses Bild entstand 2022 als digitale Übermalung einer Baumrindenstruktur im Projekt #malenimwald. Aus dem unregelmäßigen Muster der Rinde wächst ein Gesicht: aufgerissene Augen, ein weit geöffneter Mund, die Hände wie ein Schalltrichter darum gelegt. Der Ausdruck ist nicht erschrocken – sondern entschlossen. Dieser Mund will gehört werden.

„Der Rufer“ steht in starkem Kontrast zum stillen Staunen oder inneren Aufschrei anderer Werke in dieser Serie. Hier geht es um Sichtbarkeit, um Mitteilung, vielleicht auch um Warnung. Die Figur tritt heraus aus der Tarnung der Rinde und hebt die Stimme. Und wir als Betrachtende sind die Adressierten: Wer ruft da? Und was will er uns sagen?

🎤 Im Flug gefüttert – Collage mit Vögeln (2023)

Diese Collage entstand 2023 und zeigt eine Szene voller Bewegung und Andeutung. Die Figur mit dem weit geöffneten Mund steht unter einem Schwarm bunter Vögel – die meisten sind im Flug, einige sitzen auf ihrer Schulter. Einer trägt zwei leuchtend rote Kirschen im Schnabel.

Vielleicht ruft sie – vielleicht singt sie – oder vielleicht öffnet sie einfach den Mund, um die fallenden Kirschen aufzufangen. Die Szene lässt viel Raum für Deutung: Sie könnte ein Symbol sein für Empfänglichkeit, Vertrauen oder spielerisches Miteinander.

Anders als in früheren Werken mit offenem Mund geht es hier nicht um einen Aufschrei, sondern um einen Moment des Einlassens. Der Mund ist geöffnet – nicht aus Schmerz, sondern aus Erwartung, Freude, Offenheit. Ein Bild, das Lust macht auf Zwischenräume: zwischen Flug und Landung, Gabe und Genuss, Klang und Stille.

🖼 Selbstbefragung – Ich mag schreiende Gesichter (2021)

Dieses kleine Selbstporträt entstand im Rahmen einer 100-Tage-Zeichenserie von Selbstportraits und ist Teil meines Blogbeitrages: Vom Leben gezeichnet – Mit Selbstportraits zu mehr Selbstakzeptanz

Oben im Bild steht meine innere Flüsterei, meine Fragen: „Wann sehe ich mir ähnlich? Habe ich ein Aller­weltsgesicht? Warum habe ich mich nicht mit 20 gemalt?“

Unten rechts schreibe ich: „Ich mag schreiende Gesichter und Münder.“ Das Gesicht im Bild spiegelt das wider: Vier Schneidezähne sichtbar, der Mund weit auf, als ob er laut werden möchte – ohne Versteck, ohne Zurückhaltung.

Es ist kein Schrei der Wut oder Verzweiflung. Es ist ein Selbstausdruck. Ein Mund, der gehört werden will – in seiner Unvollkommenheit, seinem Schmerz, seiner Frage. Gleichzeitig ist es auch ein Akt der Selbstliebe: Ich darf da sein – auch wenn mein Ausdruck nicht ‚perfekt‘ ist.

Ein mutiger, ruhiger Beitrag zur Vielfalt offener Münder – und ein Erzählen darüber, wie wir über Gesicht und Ausdruck zu uns selbst finden.

🖼 Geht’s noch! (2021) – Nett war gestern

#021/100 der Serie „100 Portraits“

Mit der Zeichnung „Geht’s noch!“ endet dieser Beitrag – und zwar mit Nachdruck. Der Mund weit geöffnet, die Augenbrauen aggressiv gesenkt, die Haltung konfrontativ. Hier wird nicht gelauscht oder gestaunt, hier wird Kante gezeigt.

Darunter steht: „Nett war gestern! TIPP: Spiele mit deinen Emotionen.“
Ein klarer Appell an uns alle: Gefühle nicht glätten, sondern gestalten. Nicht schlucken – sondern verwandeln. Dieser gezeichnete Ausdruck ist keine Einladung zum Dialog – sondern ein kraftvoller „Ich bin da, und ich habe was zu sagen!“ Ein emotionaler Schlusspunkt, laut und ungeschönt. Und ein würdiges Ende für diese Sammlung offener Münder.

Liebe*r Couchgalerie-Besucher*in!

Du hast jetzt viele offene Münder gesehen – mal ernsthaft, mal verspielt, mal digital, mal aus dem Skizzenbuch. Vom „Scheitern der Heiterkeit“ bis zu „Geht’s noch!“ zeigt sich: Der offene Mund ist ein vielseitiges Motiv – ein Zugang zur Emotion, zum Ausdruck, zur Selbstbehauptung.

Und es geht weiter:
Nach diesem dritten Teil der Serie wird es einen vierten Beitrag geben – dort stehen dann offene Münder in KI-generierten Bildern im Mittelpunkt. Eine neue Ästhetik, andere Fragen, andere Möglichkeiten.

Bleib also gern dran – und bis dahin: Vielleicht erwischst du dich ja selbst mal mit offenem Mund – beim Staunen, Singen oder Nachdenken. Dann bist du mittendrin. 🌬️

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